Mangelhafter Schutz der nichtrauchenden Bevölkerungsmehrheit
[09.04.2011/pk]
Am 23. März präsentierte die Vereinigung der Europäischen Krebsorganisationen (ECL) in Amsterdam die neuesten Zahlen ihrer Studie zur Tabakkontrolle. Unter den betrachteten 31 europäischen Ländern rangiert Deutschland weit abgeschlagen auf Rang 26. In der vierten Auflage der europäischen Tabak-Kontroll-Skala (TCS) wird der Bundesrepublik vor allem ein mangelhafter Schutz der nichtrauchenden Bevölkerungsmehrheit bescheinigt. Schlechter schneiden nur noch Ungarn, Tschechien, Luxemburg, Österreich und Griechenland ab.
Erfolgreiche Maßnahmen für einen angemessenen Schutz der nichtrauchenden Bevölkerungsmehrheit in Großbritannien, Irland und Norwegen resultieren in Spitzenplätzen. Auch die Türkei, die von manchem Raucher immer noch fälschlicherweise als Beispiel für liberale Rauchergesetze zitiert wird, rückte als Neuzugang in der Liste direkt auf den vierten Platz vor, den sich das Land bei gleicher Bewertung mit Island teilt.
Vertreter von Gesundheitsorganisationen sehen sich durch den Bericht in ihrer Kritik an der deutschen Tabakpolitik bestätigt. Der Sprecher des Aktionsbündnis Nichtrauchen (ABNR), Dr. Uwe Prümel-Philippsen, bemängelt: "Viele politische Entscheidungsträger hierzulande stellen wirtschaftliche Interessen vor den Gesundheitsschutz der Bürger." Der Gesundheitsexperte erläutert weiter: "Hohe Preise für Tabakwaren und vollständige Rauchverbote werden als zwei der effektivsten Maßnahmen der Tabakprävention eingestuft und werden beim Ranking mit der höchsten Punktzahl belohnt."
So kostet die Packung Zigaretten im TCS-erstplatzierten Vereinigten Königreich fast das Doppelte wie in Deutschland. Auf den britischen Inseln werden Kinder nicht - wie es in Deutschland leider immer noch die Regel darstellt - auf der Straße, an Bahnhöfen oder Bushaltestellen Tabakwerbung ausgesetzt. In den westlichsten Staaten Europas können nikotinsüchtige Kinder nicht - wie in Deutschland - halbherzig geschützte Tabakdrogenautomaten austricksen, weil ihnen die Gelegenheit dort nicht geboten wird.
Besonders schlecht schneidet Deutschland bei Informationskampagnen ab, die im Vergleich zu den Erstplatzierten praktisch nicht existent sind. Die von der Bundesdrogenbeauftragten gerne zitierten Aufklärungsmaßnahmen sind in der Öffentlichkeit überhaupt nicht präsent. Die Bevölkerung erhält also keine realistischen Informationen über das Rauchen. Diese Lücke, die Macht der Unwissenheit, dürfen die Nikotindrogenhersteller nach eigenem Gutdünken mit ihren Werbebotschaften füllen. In keinem anderen Land Europas ist eine derartige unkontrollierte Außenwerbung für Tabakwaren gesetzlich zugelassen, außer in Deutschland. Das fehlende Tabakwerbeverbot im Zusammenhang mit der Nichtexistenz wirksamer flächendeckender Aufklärungskampagnen ist der ideale Nährboden für die mörderische Geschäftspolitik der Tabakkonzerne.
Anders als das großspurige Eigenlob der Bundesdrogenbeauftragten vermuten lässt, hat sich Deutschland in den vergangenen Jahren bei der Tabakpolitik so gut wie nicht verbessert. Bereits im Jahr 2007 landete Deutschland bei der Studie "Fortschritt der Tabakkontrolle in 30 europäischen Staaten" weit abgeschlagen auf dem 27. Platz. Schon vor vier Jahren konkurrierte die deutsche Tabakpolitik nur noch mit Griechenland, Luxemburg und Österreich um die zweifelhafte Ehre, "die wenigsten Fortschritte bei der Umsetzung der Tabakkontrolle erzielt zu haben".
Deutschland kassiert zwar jährlich etliche Milliarden an Tabaksteuer, lässt die Opfer der Tabakindustrie jedoch mit ihren durch das Rauchen verursachten Problemen im Regen stehen. Luk Joossens, international anerkannter Experte für Tabakkontrolle bei der ECL, erläutert das finanzielle Problem der Tabakkontrolle anhand konkreter Zahlen: "Zwei Drittel aller EU-Länder investieren jedes Jahr nicht einmal zehn Cent pro Kopf und Jahr für die Tabakkontrolle. Die Weltbank empfiehlt stattdessen einen Betrag in Höhe von zwei Euro." Die Autoren der Studie zeigen sich höchst besorgt, "dass immer weniger Geld in die Tabakkontrolle investiert wird". Zum Vergleich: jeder Raucher zahlt durchschnittlich fast 900 Euro jährlich an Tabaksteuern, das ist beinahe das 10.000-fache der Ausgaben für den Schutz vor tödlichen Tabakdrogen.
Kriterien
Die Tabak-Kontroll-Skala bewertet Maßnahmen der Tabakkontrollpolitik, insbesondere die Rauchfreiheit öffentlicher Räume einschließlich der Gastronomie. Von der Weltbank wurden folgende sechs Kriterien identifiziert, die in der Tabakkontrolle Priorität haben:
Preissteigerungen mittels Erhöhungen der Steuern auf Zigaretten und andere Tabakprodukte
Verbote beziehungsweise Einschränkungen des Tabakkonsums in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz
Bessere Verbraucherinformation, einschließlich öffentlicher Informationskampagnen, Medienberichterstaatung und der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen
Umfassende Verbote der Werbung und Promotion von Tabakprodukten, Logos und Markennamen
Große unmittelbare Warnhinweise auf Packungen von Zigaretten und anderen Tabakwaren
Behandlungsangebote zur Entwöhnung süchtiger Raucher, einschließlich verbesserter medikamentöser Unterstützung
Das ABNR erläutert: "Tabakkonsum ist die Hauptursache für nicht-übertragbare Krankheiten und führt in Deutschland jährlich zu mehr Todesfällen als Aids, Alkohol, illegale Drogen, Verkehrsunfälle, Morde und Selbstmorde zusammen. Jedes Jahr sterben in den EU-Ländern mehr als 650.000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums, rund 110.000 Personen davon in Deutschland. Durch das Passivrauchen sterben im selben Zeitraum europaweit rund 80.000 Menschen, davon über 3.300 hierzulande."
Angesichts dieser Tragweite der tabakbedingten Gesundheitsprobleme fordern Gesundheitsexperten die Umsetzung einer umfassenden Tabakkontrollpolitik am Beispiel von Großbritannien. Prümel-Philippsen, Sprecher des Aktionsbündnis Nichtrauchen, weist auf die WHO-Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle als Orientierungshilfe hin. Die WHO-Konvention benennt konkrete und effektive Maßnahmen, und wurde auch von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und ratifiziert.