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Fotodokumentationen

Wissenschaftliche Beratung der Bundesregierung durch Tabaklobbyisten

Marionetten der Tabakindustrie als Experten beim Bundesverfassungsgericht

[04.06.2011/pk] Am 27. Februar 2005 trat das Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (kurz WHO-Tabakkonvention) in Kraft, das auch von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und ratifiziert wurde. Gemäß Artikel 5 ist die Bundesregierung zum Schutz vor der Einflussnahme der Tabakindustrie auf die Gesundheitspolitik verpflichtet. Das interessiert jedoch viele unserer arroganten und verantwortungslosen Politiker offenbar nicht im Geringsten.

Wie der Spiegel bereits im Jahr 2006 berichtete, hat die Tabakindustrie deutsche Politiker beeinflusst, einen wirksamen Verbraucherschutz bei Zusatzstoffen für Tabakwaren zu verhindern. Während in den USA eine Vielzahl dieser Stoffe längst verboten ist, weigern sich Deutschland und die EU vehement, diesem Vorbild zu folgen. So müssen sich Raucher und Passivraucher gleichermaßen damit abfinden, dass bis zu 600 Chemikalien und ihre (beim Verglimmen der Zigarette entstehenden) oft giftigen oder Krebs erregenden Folgeprodukte eine völlig überflüssige Gefahr für ihre Gesundheit und ihr Leben darstellen.

Dem Spiegel-Bericht zu Folge arbeiten Politiker und nützliche Experten im Dienste der Tabakindustrie Hand in Hand, um "genehme Studienergebnisse in politische Entscheidungen einfließen zu lassen". Mit Hilfe dieser "Gilde der Handlanger" wird der wissenschaftliche Konsens ignoriert, und die wirtschaftlichen Interessen der Tabakdrogenhersteller über das grundgesetzlich garantierte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gestellt.

Einer dieser Handlanger ist Jürgen Hahn, Oberchemierat am Chemischen Untersuchungsamt des Landes Baden-Württemberg. Angeblich, so der Chef dieser Behörde gegenüber dem Spiegel, stünde Hahns Kontakt zur Tabakindustrie nur im Zusammenhang mit dessen "amtlicher Überwachungsfunktion". Hahn selbst hielt es übrigens nicht einmal für nötig, selbst dazu Stellung zu nehmen. Wer sich nicht äußert, kann auch nicht der Lüge überführt werden.

In der Diskussion um die gesetzliche Regulierung der Zusatzstoffe in Tabakwaren hatte sich Hahn klar auf die Seite der Tabakindustrie geschlagen. Mit dem Argument, dass es letztendlich egal sei, welche Ursache für Raucherkrebs verantwortlich sei, machte er als Leiter der Arbeitsgruppe für Zusatzstoffe des Verbraucherschutzministeriums Stimmung gegen angeblich überzogene Prüfvorschriften für die Tabakindustrie, die diese nur unnötig belasten würde. Statt für Verbraucherschutz machte Hahn sich vor allem für den Schutz kleinerer und mittlerer Betriebe der Tabakindustrie stark.

Dabei wäre es nach neuesten Erkenntnissen von Toxikologen und Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) dringend notwendig, sowohl die Gefahr der einzelnen Chemikalien als auch deren Zusammenwirkung im Tabakrauch zu analysieren. Denn neben dem Nikotin stehen insbesondere diese Zusätze im dringenden Verdacht, für die beobachtete Erbgutverändeng bei Rauchern verantwortlich zu sein.

Um eine daraus resultierenden gesetzlichen Regulierung zu verhindern, veröffentlichte die Tabakindustrie laut Spiegel eigene Untersuchungen. Demnach gäbe es angeblich keinerlei Bedenken gegen den in der Tabakproduktion eingesetzten Chemie-Cocktail von bis zu 600 verschiedenen Substanzen. Die Forscher der Tabakindustrie veröffentlichten jedoch keine umfassende Analysen aller einzelnen Stoffe und ihres Zusammenwirkens.

Auch die akribische wissenschaftliche Auseinandersetzung der Wissenschaftsgemeinschaft mit Resultaten und Vorgehensweisen, die üblicherweise vor der allgemeinen Anerkennung der Ergebnisse stehen, blieb aus. Schließlich hätte diese Prozedur Jahre gedauert, während die Tabakindustrie ihren Gegenangriff umgehend starten musste. So wurden die Ergebnisse werbewirksam auf von der Tabakindustrie selbst organisierten internationalen Kongressen vermarktet. Wie der Spiegel schreibt, war dabei auch der Landesbedienstete Hahn oftmals mit von der Partie.

Die Arbeitsgruppe des Verbraucherschutzministeriums unter der Leitung Hahns fand keinen Konsens, da dessen Standpunkt für etliche teilnehmenden Experten wissenschaftlich nicht vertretbar war. Das Verbraucherschutzministerium, das sich dem Zwang zu Ergebnissen ausgesetzt sah, stattete daraufhin ausgerechnet den umstrittenen Jürgen Hahn mit einem Forschungsauftrag aus, der Antworten auf die Fragen nach den Gefahren der Zusatzstoffe liefern sollte.

Das Ergebnis kann man sich bereits denken: Jürgen Hahn kam zum Schluss, "die Stoffe seien halb so schlimm". Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte Hahn zusammen mit einer Angestellten des Verbraucherschutzministeriums jedoch nicht in der unabhängigen internationalen Fachpresse, sondern in einem Forschungsmagazin der Tabakindustrie. Im gleichen Heft finden sich auch die deckungsgleichen Ergebnisse der von der Tabakindustrie unmittelbar bezahlten Forschung.

Der Leiter seiner Behörde behauptet, dass Hahns Kontakte zur Tabakindustrie angeblich "keinen Einfluss" gehabt hätten. Kritiker sehen darin jedoch eine unzulässige "Verfilzung deutscher Wissenschaftler mit der Tabakindustrie". Es spricht schon die Tatsache Bände, dass Hahns Ergebnisse nicht etwa in der unabhängigen internationalen Fachpresse veröffentlicht und sachlich diskutiert wurden. Durch die Veröffentlichung in einem von der Tabakindustrie herausgegebenen Blatt behielt diese stets die volle Kontrolle, unerwünschte Kritik oder Zweifel an den angewandten Methoden konnten dadurch von vornherein ausgeschaltet werden.

Hahn muss sich weiterhin vorwerfen lassen, dass er der Argumentation der tabakindustrieabhängigen Forschung quasi "einen amtlichen Stempel" verschafft hat. Oder wie Thilo Grüning es in einer Präsentation formulierte: die Tabakindustrie betätigt sich als Ghostwriter, lässt für sie vorteilhafte Forschungsergebnisse von scheinbar unabhängigen Dritten vortragen und verheimlicht meist ihre Beteiligung. Besonders beunruhigend im Fall Hahn ist die Tatsache, dass er immer noch "in einer wichtigen internationalen Arbeitsgruppe sitzt, die demnächst über Richtlinien für die Zusatzstoffe entscheidet", wie der Spiegel mitteilt.

Jürgen Hahn alleine hätte dem Verbraucherschutz nicht einen derartigen Bärendienst erweisen können, wenn willfährige Politiker auf allen Ebenen dieses Spiel nicht mitgespielt hätten. Dabei stellt Hahn leider keinen Einzelfall dar.

Eine weitere Handlangerin im Filz der Nikotindrogenhersteller und Gesundheitspolitiker ist Heidi Foth, Leiterin des Instituts für Umwelttoxikologie an der Universität Halle-Wittenberg. Foth behauptet von sich selbst, neben einer einmaligen Beantragung von Forschungsgeldern "keine direkten Kontakte zur Tabakindustrie gepflegt" zu haben. Dabei zeichnen die internen Dokumente der Tabakindustrie ein anderes Bild. So pflegte beispielsweise der Leiter eines Philip-Morris-Labors augenscheinlich ein so persönliches Verhältnis zu ihr, dass er sie in seiner Korrespondenz mit "Liebe Heidi" betitelte und ihr "viel Vergnügen" auf einem Meeting in Hawaii wünschte.

Wie bei Jürgen Hahn gibt auch die Argumentation von Heidi Foth detailgetreu die stereotypen Standpunkte der Tabakindustrie wieder. Foth streitet ebenfalls die Gefahren des Tabakkonsums nicht ab, sie spielt sie nur herunter und verharmlost sie. Diese Strategie lässt sich aktuell auch am Marketing der Tabakindustrie gut beobachten. Diffuse und nicht greifbare allgemeine Gefahren des Rauchens geben die Nikotindrogenhersteller offiziell zu, um sich einen verantwortungsbewussten Anschein zu geben. Wenn es jedoch um konkrete Gefahren geht, dann wird jeglicher Zusammenhang mit dem Rauchen bestritten, um Schadensersatzforderungen und gesetzliche Regulierung gleichermaßen im Keim zu ersticken.

Besonders beschämend für bundesdeutsche Politiker ist, dass sie Heidi Foth immer noch die Gelegenheit geben, ihre tabakindustriefreundliche Haltung in hohen Ämtern zum Schaden der Verbraucher auszunutzen. Foth berät auch heute noch die Bundesregierung als stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen. Bis zum vergangenen Jahr hielt sie zudem den Vorsitz der Gesellschaft für Toxikologie inne. Das Resultat kann man sich bereits vorstellen: beide Gremien halten sich aus allen Diskussionen um den Schutz vor Passivrauchen vornehm zurück. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat seit dem Beitreten Heidi Foths im Jahr 2001 keinen Report mehr herausgegeben, der sich mit den Gefahren des Zwangsmitrauchens befasst und einen wirksamen Nichtraucherschutz fordert. Der letzte Bericht dazu stammt aus dem Jahr 2000.

Auch weitere bekannte Forscher aus dem Umfeld der Tabakindustrie wurden immer wieder von Politikern als angeblich unabhängige Gesundheitsexperten in den politischen Entscheidungsprozess eingeschleust, obwohl sie teilweise über Jahrzehnte sechs- bis siebenstellige Summen an Forschungsgeldern von den Nikotindrogenherstellern erhielten oder sogar heute noch erhalten.

Gerhard Scherer ist seit mehr als zwei Jahrzehnten Leiter des Analytisch-Biologischen Forschungslabors (ABF) in München, das vom inzwischen aufgelösten Verband der Cigarettenindustrie (VdC) gegründet wurde. Bei einer Anhörung des rheinland-pfälzischen Landtags im Jahr 2007 hatte Scherer bestritten, dass Passivrauchen relevante Gesundheitsgefahren hervorrufen könnte. Scherer gab sich dort einfach als "an der Ludwig-Maximilians-Universität München habilitierter Toxikologe/Pharmakologe und Geschäftsführer des Analytisch-Biologischen Forschungslabors ABF in München" aus. Dabei verheimlichte er jedoch seine eigene langjährige Tätigkeit im Dienste des VdC, ebenso wie die Beziehung seiner Forschungseinrichtung zum Tabaklobbyverband und den daraus resultierenden Interessenkonflikt.

Selbst die höchsten Richter des Bundesverfassungsgericht führte Gerhard Scherer hinters Licht. Er war dort im Juli 2008 als Experte bei der Verhandlung über Verfassungsbeschwerden gegen die Nichtraucherschutzgesetze in Baden-Württemberg und Berlin eingeladen. Bei dieser Gelegenheit behauptete er ebenfalls, dass Passivrauchen zu keinerlei Gesundheitsgefährdung führen könnte. Warum die Verfassungsrichter bei der Berufung ihrer "Experten" derart schlampig vorgingen, ist bislang nicht bekannt. Nicht nur Thilo Grünings Studien der Einflussnahme durch die Tabakindustrie waren zu diesem Zeitpunkt bereits publik.

Fazit: Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht lassen sich von der Tabakindustrie wie dumme Schuljungen an der Nase herumführen. Wer in derart verantwortungsvollen Ämtern sitzt und über Gesundheit und Leben einer Millionenbevölkerung entscheiden will, dem nimmt man die zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit gegenüber den Machenschaften der Nikotindrogenproduzenten nicht mehr ab - diese sind inzwischen einschlägig bekannt.


Quellen und weitere Informationen

Beschwerdeautomat
Anfrage wegen Sponsoring durch die Tabakindustrie (Hochschulen und Forschungseinrichtungen)
Peinliche Werbung mit Philip-Morris-Forschungspreis bitte entfernen
Philip-Morris-Forschungspreis existiert nicht mehr
Aufforderung zur Ablehnung von Ehrungen und Preisen der Tabakindustrie
Anfrage wegen Tabakwerbung in Zeitungen, Zeitschriften etc.
Anfrage wegen Sponsoring durch Tabakindustrie (Verbände und Parteien)
Tabaklobby
Politik
Gesundheitswesen
Analytisch-Biologisches Forschungslabor (ABF)
Verband der Cigarettenindustrie (VdC)
Heidi Foth
Gerhard Scherer
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